Stimme aus dem Neuland: Inga Mehlert-Garms

Als Historikerin leitet Inga Mehlert-Garms das Projekt „800 Jahre Merzenich“, das die Geschichte der Ortschaft von der Steinzeit bis in die 1980er Jahre beleuchtet und zeigt, welche Rolle Erinnerungskultur für das gesellschaftliche Miteinander spielt. Die dritte Ausstellung im Oktober hat sich dem Thema bedrohte Heimat gewidmet – eine Auseinandersetzung mit Verlust, Wandel und Neuanfang, die auch viele Menschen im Rheinischen Revier betrifft.

Heimat ist für mich dort, wo die Menschen sind, die mir wichtig sind – weniger ein fester Ort als ein Gefühl, das mit Erinnerungen und Erlebnissen verbunden ist. Auch wenn ich nicht direkt von einer Umsiedlung betroffen war, hat sich meine Perspektive auf Heimat im Laufe der Jahre verändert. Als Historikerin fasziniert mich besonders die Frage, wie sich Heimat verändert und wie Menschen damit umgehen. Die aktuelle Ausstellung greift das auf: „bedrohte Heimat“ im Kontext von Krieg, Wiederaufbau und den gesellschaftlichen Umbrüchen danach. Ein Thema mit vielen Parallelen zur Gegenwart. 

Ich liebe die Fülle an Geschichte, die hier förmlich vor der Haustür liegt – von römischen Spuren in der Eifel bis zu mittelalterlichen Burgen, Altstädten und den zahlreichen Schlossanlagen. Das macht die Region für mich unglaublich lebendig. Der Struktur­wandel hat meinen Blick auf Heimat geschärft: Er zeigt, wie verletzlich Orte sein können – aber auch, wie viel Potenzial im Wandel steckt. 

Die Liebe zur Geschichte begleitet mich schon lange. Nach einem Abstecher in die Museumspädagogik bin ich 2018 zur Gemeinde Merzenich gekommen und 2021 ins Archiv gewechselt – ein Ort, an dem ich täglich entdecke, wie Geschichte die Gegenwart prägt. Als Projektleiterin von „800 Jahre Merzenich“ war mein erster Schritt: Prüfen, ob das Jubiläumsdatum überhaupt stimmt. Denn viele Städte feiern auf falscher Quellenbasis. Umso schöner war es, den Nachweis von 1225 bestätigen zu können. Damals wechselte Merzenich durch eine Pfandverschiebung zwischen dem Grafen von Neuenahr und dem Herzog von Jülich den Besitzer. 

Besonders wichtig ist mir, Geschichte für Menschen erfahrbar zu machen – mit Führungen, Vorträgen, Kindermitmachaktionen wie einer Dorfschnitzeljagd oder Schulprojekte mit Zeitzeugen. Geschichte gehört nicht ins Regal, sondern mitten ins Leben. Das zeigen auch besondere Archivstücke, die mich berühren. Etwa die Umbettungsprotokolle aus dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager Arnoldsweiler. Für jede einzelne Person gibt es ein Dokument, das den Menschen, die ausgelöscht werden sollten, ihre Identität zurückgibt. Oder eine Fotografie von 1935, die Gottesdienstbesucher nach dem Kirchgang zeigt. Ein Moment aus dem Alltag einer fast vergessenen Welt. Diese Archivalien geben der Vergangenheit ein Gesicht. 

Ein Ort, der mich bewegt, ist der alte Friseursalon von Peter Dederichs – direkt gegenüber vom Rathaus. Er eröffnete ihn in den 1950er Jahren, die Ausstattung ist bis heute erhalten. Das Gebäude wird zwar abgerissen, das Inventar bleibt der Gemeinde erhalten. Für mich steht dieser Ort exemplarisch für Erinnerungskultur: Es sind die Geschichten der Menschen, die Geschichte greifbar machen – nicht nur die großen Ereignisse. Gerade im Struktur­wandel braucht es solche Ankerpunkte. 

Geschichte muss zu den Menschen kommen – nicht umgekehrt. Wir haben in Merzenich bewusst neue Formate entwickelt: ein Schülerprojekt zur Wirtschaftsgeschichte mit Interviews, VR-Elementen, Social Media und Ausstellung. Auch Kitas waren eingebunden – sie haben die alten Kita-Gebäude nach historischen Fotos ausgemalt. So entsteht ein lebendiger Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart. 

Eine lebendige Erinnerungskultur schafft Verständnis für das, was Menschen geprägt hat – und das ist entscheidend, wenn sich eine Region verändert. Wenn wir wissen, was den Menschen in ihrem Ort wichtig ist, können wir sie auf dem Weg in die Zukunft besser mitnehmen. Das kulturelle Erbe ist für mich ein wichtiger Kompass: Es hilft, Identität zu wahren und gleichzeitig offen für Neues zu sein. Und es zeigt, wie Wandel gelingen kann – denn Veränderung ist nichts Neues, sondern Teil unserer Geschichte. Mein großer Wunsch ist ein Museum, das die besondere Geschichte dieser Region sichtbar macht – nicht nur für uns, sondern auch für kommende Generationen. Es wäre großartig, wenn zum Beispiel RWE-Archivalien, Dokumente aus dem Gemeindearchiv Merzenich oder Leihgaben von Privatpersonen zur Geschichte der Gemeinde Merzenich in einer als Dauerausstellung hier ihren Platz fänden. Und ich hoffe, dass Archive und Erinnerungskultur künftig den Stellenwert bekommen, den sie verdienen – als Orte des Lernens, des Dialogs und der Zukunftsgestaltung. 

Das Projekt „800 Jahre Merzenich“ wird bis Ende 2026 über das LEADER-Programm gefördert.